Zentrum am Rande
Seit der Gründung des Klosters an der äußersten nordwestlichen Peripherie Russlands und bis heute sind die Solovki-Inseln ein Ort von symbolischer Macht und ein besonderes Zentrum mit sakraler Funktion gewesen. Es war eine Stätte mit besonders engen und bisweilen spannungsgeladenen Verbindungen zu dem eigentlichen Machtzentrum Moskau und ein Ort, dessen Schicksal als engstens mit dem Schicksal von ganz Russland verknüpft angesehen werden kann.
Das begann im 15. Jahrhundert, als im Kontext der Einsiedlerbewegung Mönche aus dem Zentrum (Novgorod) am äußersten Rand eine Einsiedelei gründeten. Aber der Kontakt zum Zentrum bleibt erhalten – Solovki gewann bald eine wichtige Machtposition zwischen Novgorod und Moskau.
Starec Zosima setzte sich gegen das mit Moskau konkurrierende Novgorod: Es ging um Fischrechte (Marfa Posadnica).
In den 1550er Jahren baute Filipp (Kolyčev), der seit 1547 Igumen (= Abt) von Solovki war, das Kloster zu einem geistigen und wirtschaftlichen Zentrum aus: Die Hauptkirchen werden errichtet, eine Bibliothek, Kanäle, die das Süßwasser leiten, werden auf der großen Insel angelegt, ein Damm, Rinder werden auf die Inseln gebracht und gezüchtet. 1566 wurde Filipp praktisch gegen seinen Willen von Zar Ivan IV. zum Metropoliten berufen. Zwei Jahre später – 1568 – verweigerte er dem Zaren den Segen, weil er dessen brutale Leibgarde ablehnte, und fiel dann selbst dieser “Opričnina” zum Opfer.
Während Filipp noch Igumen war, verbannte Ivan IV. seinen wichtigsten Gewährsmann, den Gelehrten Silvestr, nach Solovki. Silvestr wurde einer der ersten Insassen des neu eingerichteten Klostergefängnisses, das bis zur Eröffnung des Klostergefängnisses in Suzdal (Ende des 18. Jh.s) das erste und einzige seiner Art in Russland war.
1584 bis 1594 wurden die Mauern um das Kloster herum (und im Kloster der Treppenaufgang zum Refektorium und der Umgang im Hof) gebaut: Höhe 8-11 Meter, Dicke 4-6 Meter, mit 7 Toren und 8 Türmen und Steinen bis zu 5 m breit. Der Architekt war ein gewisser Trifon. Diese dienten dann im 17. Jahrhundert dem Widerstand des Klosters gegen die Kirchenreform. Dank dieser Befestigung gelang es dem Kloster, neun Monate einer Belagerung durch die Truppen des Patriarchen Nikon standzuhalten.
Interessanterweise war Nikon vor seiner Ernennung zum Patriarchen selbst zuerst Mönch auf den Solovki, dann Metropolit von Novgorod. Als Patriarch setzte er der die Kirchenreform unter Aleksej Michajlovič durch, und Solovki wurde zum ersten großen Zentrum der Altgläubigen (Starec Gerasim Firsov von Solovki), die jahrelang (1667-1676) erbitterten Widerstand gegen die Reform leisteten.
Wie vor ihm Filipp, beanspruchte auch Nikon Gleichberechtigung oder gar die Überlegenheit der Kirche gegenüber dem Zaren – und wurde deswegen schließlich von Aleksej Michajlovič abgesetzt.
Anfang des 18. Jhs besuchte Peter I. zweimal die Solovki. Nach seiner ersten Reise erkannte er die strategische Bedeutung der Inseln: zum einen als Außenverteidigungspunkt und zum anderen als Ausgangspunkt des militärischen Maneuvers, das zum entscheidenden Sieg über die Schweden und zur Gründung von Sankt Petersburg an einem ebenfalls strategisch wichtigen Ort führte. Peter zog mit einem kleinen Trupp und Schiffen über Land, von den Solovki aus über Karelien nach Süden, und besiegte die Schweden dort, wo er danach Petersburg erbauen ließ: als Front gegen den und “Fenster zum Westen”. Die Solovki machte er zu einem kleinen Flottenstützpunkt.
Mitte des 19. Jahrhunderts verteidigte sich das Kloster gegen einen Angriff der britischen Flotte. Damit erzielten die wehrhaften Mönche Russlands einzigen, etwas kuriosen Sieg im Krimkrieg, der ansonsten ja im Schwarzen Meer an den Küsten der Halbinsel Krim ausgetragen wurde.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zogen zahlreiche durch die Aufhebung der Leibeigenschaft befreite Bauern als Landarbeiter nach Solovki und begaben sich in den Schutz des Klosters. So wurde das Kloster auf den Solovki mit den dazugehörigen Wirtschaftsanlagen zu einem blühenden Zentrum des Pilger-Tourismus aus den Metropolen sowie Handelszentrum und für manche Reiseschriftsteller zum Modellort alternativer – glücklicher – Gemeinschafts- und Wirtschaftsformen. (siehe das Plakat “Blüte um 1900″)
Wenig später, kurz nach der Oktoberrevolution, wurde Solovki zum Zentrum sowjetischen Experimentierens mit dem gewaltsamen Umbau der Gesellschaft: Das 1923 eingerichtete „Lager mit besonderer Bestimmung“ (SLON) wurde zum Modellversuch des sowjetischen GULAG, zur „Muttergeschwulst“, wie später Aleksandr Solženicyn diagnostizierte, deren Metastasen nachfolgend die gesamte Sowjetunion mit einem Netz aus Arbeitslagern überzogen. (Archipelag GULag, Teil 3, Kapitel 2: “Der Archipel taucht aus dem Meer auf”)