ZentrumamRande

Zentrum am Rande

Das Plakat visualisiert die aus der Perspektive der Kultursemiotik formulierte These, dass Solovki, seit der Gründung des Klosters im 15. Jahrhundert stets auf die eine oder andere Weise so eng in den politischen und/oder kulturellen Prozess im Zentrum von Russland involviert war, dass ihm trotz seiner geographischen Lage an der äußersten nördlichen Peripherie stets die Bedeutung eines „Zentrums“ zukam.

Bereits im 15. Jahrhundert, kurz nach der Gründung des Klosters, geriet Zosima, einer der drei Gründungsväter des Klosters (-> Plakat Klostergeschichte), mit den Novgoroder Bojaren wegen der Fischrechte in der weiteren Umgebung der Inseln in Konflikt. Indem Solovki diesen Streit gewann, wurde es zum Player zwischen den beiden Machtzentren der in Einzelfürstentümer zersplitterten Rus’, Moskau und Novgorod. In der russischen imperialen Historiographie des 19. Jahrhunderts wurde dieser Konflikt als entscheidendes Ereignis, welches letztlich den Untergang Novgorods besiegelte, dargestellt (vgl. die Geschichtswerke von N. Karamzin und N. Kostomarov).

Mit dem Bojarensohn Fedor Kolyčev trat 1547 ein Mitglied des Moskauer Adels und einer der bedeutendsten Intellektuellen des damaligen Russland an die Spitze des Klosters: unter Abt Filipp erlebte das Kloster eine erstaunliche wirtschaftliche und künstlerische Blüte. Als Filipp 1566 von Zar Ivan IV., dem Schrecklichen, zum Metropoliten von Moskau ernannt wurde, und erst recht als Filipp dem Zaren in der Folge als Ausdruck seiner Kritik an der Schreckensherrschaft der sog. „opričnina“ den Segen verwehrte, geriet Solovki noch mehr in den Blick des Zentrums und wurde zum Symbol des Widerstands.

Zugleich wurde auf Anordnung des Zentrums im Kloster ein Gefängnis eingerichtet, in welchem gerade die bedeutendsten und damit politisch für den Zaren gefährlichsten Regimekritiker weggesperrt wurden. Einer der ersten Gefangenen war der Protopope Silvestr, bis dato wichtigster Gewährsmann Ivans IV. und Autor des russischen Hausväterbuches Domostroj.

Wie eine Aufrüstung für die Ereignisse des 17. Jahrhunderts mutet der Bau der 8-11 Meter hohen und 4-6 Meter dicken Klostermauern aus bis riesigen Steinen an, der das Kloster innerhalb von zehn Jahren (1584 bis 1594) in eine Festung verwandelte. Denn in diesen Klostermauern wurden nicht nur Gefängniszellen eingerichtet. Zwischen 1667 und 1676 ermöglichten diese Mauern, dass das Kloster über neun Jahre der Belagerung durch die Truppen des Zaren standhielt. Solovki wurde zu einem Zentrum des Widerstands gegen die Kirchenreform des Patriarchen Nikon, die mithilfe der Staatsgewalt durchgesetzt wurde. (Vgl. dazu u.a. Čumičeva 2009)

Im 18. Jahrhundert gewann Solovki im Zusammenhang der Neuorientierung der Außenpolitik seit Peter I. als geostrategischer Standort des auch auf maritime Expansion ausgerichteten Imperiums Bedeutung.

1765 wurde das Kloster Solovki zum „stavropigial’nyj monastyr’“ erhoben, d.h. zu einem der wenigen Klöster in Russland, welche direkt dem Patriarchat und nicht dem regionalen Kirchenzentrum unterstellt waren1vgl. Zelenskaja / Lauškin 2010. Sowie http://solovki-monastyr.ru/abbey/history/XVIII/ .

Mitte des 19. Jahrhunderts konnte Solovki ganz unerwartet als Bastion am äußersten nördlichen Rand des Imperiums punkten, als während des Krimkriegs britische Streitmächte über die Karasee gegen Solovki fuhren und von den überraschten Klosterbrüdern zurückgeschlagen wurden (Vgl. Mel’nikova 2005; Lambert 2011). Gerade in symbolischer Hinsicht konnte Solovki von diesem quasi einzigen Sieg Russlands im Krimkrieg, an welchen heute noch zwei Obelisken am kleinen Hafen erinnern, gewaltig profitieren. Denn der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts massenhaft aufblühende Pilgertourismus auf die Inseln erhielt so neben der religiösen auch eine patriotische Motivation 2Vgl. z.B. die sicherlich auch an Pilgertouristen adressierte in Archangel’sk herausgegebene Broschüre „Opisanie oborony Soloveckogo monastyrja“, Archangel’sk 1905..

In dieser Zeit und bis ins zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erlebte das Kloster eine neue Blüte in wirtschaftlicher, geistlicher und kultureller Hinsicht. Wie zahlreiche literarische Reportagen von namhaften Autoren wie Sergej Maksimov, Vasilij Nemirovič-Dančenko und Michail Prišvin oder Bilder von Malern wie Michail Nesterov 3Vgl. Maksimov 1981; Nemirovič-Dančenko 2001; Nesterov 2006; Prišvin 1982. und Fotos von Sergej Prokudin-Gorskij, aber auch Postkarten von Jakov Lejcinger 4Jakob Lejcinger: Postkartensammlung des Solovecker Klosters: http://acmus.ru/collection/otkritki/index.php?page=4  Abgerufen am 22.01.2017 bezeugen, wurde Solovki zur Anlaufstelle für bürgerliche Pilger, arme, landlose Bauern und Künstler gleichermaßen und fungierte als Modellort gesellschaftlicher Gegenentwürfe. Symptom dieser Blüte ist auch, dass 1903 das Klostergefängnis endgültig geschlossen wurde.

Im Gegenzug manifestierte sich die Verbindung zum Zentrum der Macht in Russland Anfang der 1920er ein weiteres Mal in neuer Weise: Gerade auf den Solovki errichtete das neue Sowjetsystem die Keimzelle seiner auf Gewalt gegründeten Herrschaft. Mit der Gründung des SLON, des „Lagers mit besonderer Bestimmung“ wurde Solovki zum Modellversuch des GULag, des sowjetischen Lagersystems. Zwischen 1923 bis 1939 waren im SLON bis zu 52.000 Menschen inhaftiert, die auf diese schreckliche Weise Opfer des allerersten Großprojekts der Realisierung von Industrialisierung und Modernisierung durch Zwangsarbeit wurden und in ihrer großen Mehrheit dem Terror zum Opfer fielen5Vgl. Sošina 2014, 196-198.. Die zahlreichen hochkarätigen Intellektuellen unter ihnen leisteten in ihrer Gefangenschaft wichtige, z.T. disziplinbegründende wissenschaftliche Beiträge – auf dem Gebiet der sog. Regionalkunde (kraevedenie: Averincev), der Ichthiologie (Černavin), der Algenforschung (P. Florenskij), der Ikonenforschung (Anisimov und in seinem Gefolge D. S. Lichačev) u.v.m.6Vgl. dazu Brodskij 2002.. Zahlreiche Künstler, die die Lagerhaft zusammengeführt hatte, konnten noch in den 1930ern letzte avantgardistische Theaterprojekte auf den Solovki realisieren7Vgl. Lichačev 1997; sowie die Zusammenstellung von Quellen auf der Seite: http://www.solovki.ca/camp_20/theater.php . Dank einem medienwirksamen Besuch Maksim Gor’kijs 1929 und der intensiven medialen Berichterstattung (Zeitungen) über das „kulturelle Leben“ im Sonderlager, wurden die für das geistige Überleben der inhaftierten Künstler und Intellektuellen essentiellen Aktivitäten zu.

 

Literatur: