Ort der Andersdenkenden – Zentrum der politischen Verbannten

So entgegengesetzt die Funktionen von Kloster und Lager grundsätzlich auch sind – das eine ein Ort des geistig-religiösen Rückzugs, das andere ein Ort des gewaltsamen Ausschlusses und der Züchtigung, die Geschichte zeigt doch eine wichtige Kontinuität, die Solovki als einen „Ort der Andersdenkenden“ kennzeichnet: über Jahrhunderte hinweg, vom 16. bis zum 20. Jh. war Solovki ein Ort an den bedeutende Intellektuelle, v.a. auch solche, die dem Machtzentrum sehr nahe standen, verbannt wurden: vom 16. bis zum 19. Jahrhundert in das dem Kloster eingelagerte Gefängnis und im 20. Jahrhundert in das „Sonderlager“ (SLON) des sowjetischen Geheimdienstes.

Die paarige Anordnung der exemplarischen Portraits und Kurzbiografien von Personen aus verschiedenen Epochen oder sogar Jahrhunderten rührt daher, dass immer wieder gewisse Parallelen in Bezug auf Herkunft, Lebenswege, Interessen und gesellschaftliche Positionen der Inhaftierten, sowie in Bezug auf die Gründe ihrer Verbannung auffielen.

Eine interessante Parallele kann zum Beispiel zwischen Pavel Ga[n]nibal (1776-1841) und Arsenij Grek (ca. 1610-1666) gezogen werden, die beide aus ausländischen Familien stammten (Gan[n]ibal war der Enkel des aus Äthiopien gebürtigen und in den Dienst der zarischen Armee getretenen sog. „arap Petra velikogo“; Grek stammte aus einer jüdischen Familie vermutlich in Thessaloniki) und in Russland hohe Positionen innehatten (Gannibal wirkte an mehreren Schlachten gegen Napoleon mit: Austerlitz 1806 und Borodino 1812; Arsenij gilt als (Mit)begründer der Griechisch-Lateinisch-Russischen Akadamie in Moskau), bis sie aufgrund von Kritik am System bzw. Meinungsverschiedenheit mit dem Zaren auf die Solovki verbannt wurden. Ga[n]nibal, Onkel des Schriftstellers A. Puškin und angesehener General im Kampf gegen Napoleon erwarb sich den Unmut der Obrigkeit durch eine unvorsichtige Äußerung in Bezug auf die Dekabristen und wurde 1827 auf die Solovki verbannt, wo er bis 1832 einsaß. Dank der unzähligen Begnadigungsgesuche von Seiten seiner Ex-Frau wurde Gan[n]ibal 1832 entlassen – nur in die Hauptstadt durfte er nicht zurückkehren. Arsenij Grek hingegen ging in Venedig zur Schule und studierte in Rom „artes liberales“ und musste in diesem Zusammenhang zum Katholizismus konvertieren. Später studierte er in Padua Medizin. Zurück in Thessaloniki ließ er sich zum Mönch weihen, um die Zweifel seiner Nächsten zu zerstreuen. Als er später an der Kiever Slawisch-Lateinischen Akademie studierte, entdeckte der Patriarch von Jerusalem seine Gelehrsamkeit und vielfache Sprachkompetenz und nahm ihn mit nach Moskau. Immer wieder jedoch wurde Arsenij des Renegatentums – nicht nur zum Katholizismus, sondern auch zum Islam – bezichtigt, woraufhin der Metropolit von Moskau ihn auf die Solovki verbannte. Wie zuvor schon am Hof des Patriarchen von Jerusalem machte sich Arsenij auch auf den Solovki durch seine Gelehrsamkeit einen guten Ruf. So wurde er nach seiner Begnadigung vom Patriarchen Nikon (dessen Karriere als Geistlicher ebenfalls auf den Solovki ihren Anfang genommen hatte) in Moskau engagiert und unter dessen Fittiche genommen. Zwischen 1662 und 1666, noch während der Amtszeit Nikons (dem er auch nach dessen Absetzung 1666 treu blieb), war er ein zweites Mal in Verbannung auf den Solovki. Und wieder widmete er sich der philologischen Revision und Übersetzung wichtiger Bücher:1 Nemirovič-Danchenko (Übersetzung: Susanne Frank, Mark Kaplan) des sog. Skrižal 2 Skrizal’ bezeichnet eine ursprünglich in griechischer Sprache verfasste Textsammlung, die 1653 über einen konstantinopeler Patriarchen zu Nikon gelangte. 1654 hat Nikon ein Konzil einberufen, wo die Berichtigung von Kirchenbüchern nach dieser Vorlage beschlossen wurde. Das Buch enthält Informationen über die für die altrussische Kultur und für das Verständnis der Kirchenspaltung so wichtigen Ritusreformen Nikons, darunter mehrere Aufsätze über das Kreuzzeichen. Die Übersetzung ist 1574 in Russland erschienen., dem in der Kirchenreform Nikons große Bedeutung zukam, des „Anthologion“, einer Sammlung apokrypher Viten, darunter der des „Aleksej, des Gottesmenschen“, und eines „Chronographen“ (d.h. einer Chronik).

Auch zwischen dem Lebenslauf des gelehrten Protopopen Silvester (gest. 1566), dem Autor des russischen Hausväterbuches Domostroj, einer patriarchalen Hauswirtschaftslehre, und Pavel Florenskij (1882-1937), einem vielseitig gebildeten Kunstphilosophen, Wissenschaftler und Theologen, dessen Oeuvre mehr als 30 Patente, Schriften in Kunst- und Religionsphilosophie, Mathematik, Astronomie und Meeresbiologie und Biochemie umfasst, lassen sich Gemeinsamkeiten feststellen. Als enger Vertrauter des jungen Zaren Ivan des Schrecklichen durfte Silvester lange Zeit ungestraft seine Kritik an der Politik des Zaren üben, bis er dann eine gewisse Grenze überschritt und auf die Solovki verbannt wurde. Und auch Pavel Florenskij konnte trotz der radikalen politischen Veränderungen in Russland ab dem Jahr 1917 längere Zeit sowohl weiterhin das seinem kirchlichen Amt gemäße Gewand tragen als auch seine antirevolutionären (monarchistischen) politischen Ansichten kundtun. Dank dem Protektorat bedeutender Persönlichkeiten (z.B. E. Peškova, der Frau von M. Gor’kij) wurde er bis 1933 stets vor der Verbannung bewahrt. Während seiner Forschertätigkeit bei Glavėlektro und GOĖLRO (Florenskij widmete sich seit 1920 auch der Elektrotechnik) wurde er in den 1920er Jahren von Lev Trockij unterstützt, der zu dieser Zeit an der Spitze von Glavėlektro stand (manche Zeitgenossen hatten Trockij und Florenskij sogar in einem Auto durch die Stadt fahren gesehen und spekulierten über deren enge freundschaftliche Beziehung). In der Verbannung auf den Solovki forschte Florenskij weiter und widmete sich der Gewinnung von Jod und Agar-Agar aus Meeresalgen 3 http://www.gulagmuseum.org/showObject.do?object=48917702&language=1 .

Gleich zwei bedeutende sowjetische Wissenschaftler fanden während der Gefangenschaft im Sonderlager zu ihrer wissenschaftlichen Spezialisierung: Dmitrij Lichačev schlug erst nach der Lagerhaft, unter dem Eindruck der Anregungen, die er von seinem Mitgefangenen, Alexandr Anisimov, Kunsthistoriker und Spezialist für Ikonenmalerei, bekommen hatte, den Weg als Historiker der altrussischen Kunst ein, auf dem er später Berühmtheit erlangte. Auch Nikolaj Anciferov, der als einer der Begründer des „kraevedenie“ (Regionalkunde) gilt, entwickelte die Methodologie dieser Disziplin u.a. auf den Solovki, wo er auch in den Lagerzeitschriften einschlägige Artikel publizierte.

Literatur:

Russkij biografičeskij slovar‘. Sankt Peterburg 1896-1913.