Sonderlager Solovki

1923-1939: Zahlen, Daten, Perspektiven

Ab dem Jahr 1923 beginnt die offizielle Geschichte des Lagers auf den Solovki (inoffiziell setzt sie wahrscheinlich noch 1920 an, als das gesamte Kloster unter merkwürdigen  Umständen in Brand gesetzt wurde): die Geschichte des “Lagers mit besonderer Zielsetzung” (Sovetskij Lager’ Osobogo Naznačenija). Diese “Epoche” dauerte 16 Jahre (bis 1939) und umfasste mindestens drei verschiedene Perioden, in denen das Konzept des Arbeits- und Umerziehungslagers erarbeitet und erprobt wurde. Offiziell war seine Bestimmung zunächst die Erprobung der Umerziehung von Kriminellen. Aber eigentlich ging es um viel mehr.

Der Fokus des Plakats “SLON: Zahlen, Daten, Perspektiven” liegt auf der Idee des Arbeitslagers, seiner organisatorischen Umsetzung, sowie auf seinem modellhaften Charakter, der nach Auffassung von Aleksandr Solženicyn das gesamte GULAG-System vorgeprägt und vorweggenommen hat. Auf dem Plakat ist ein Zusammenspiel von topographischen Informationen, den Stimmen der Zeitgenossen und statistischen Daten zu sehen.

So äußerte sich Maxim Gor’kij in einem Essay von 1929 in der Zeitschrift Naši Dostiženija [Unsere Errungenschaften] mit schierer Begeisterung über das Lager auf den Solovki als “Übungsschule für den Eintritt in eine Kommune” und schrieb ihm die potenzielle Kraft zu, die Institution des Gefängnisses als Artefakt der bourgeoisen Gesellschaft zugunsten einer Arbeitskommune abzuschaffen.

In der Realität übertraf die Zahl der politischen Gefangenen und von unrechtmäßig Inhaftierten und Verurteilten im SLON bei weitem die Zahl der Kriminellen. Und vor allem waren die Häftlinge des GULAG als billige Arbeitskräfte gedacht, die unentgeltlich für den Staat schuften mussten.

Der zynischen Aussage des ehemaligen Lagerkommandanten Naftali Frenkel’ zufolge, die Aleksandr Solženicyn im Roman Archipel GULag (1973) dokumentiert, soll dem Häftling “in den ersten drei Monaten” seiner Haft “alle Kraft genommen” werden, danach “brauche man ihn nicht mehr”.

Das lobpreisende, ideologisch aufgeladene Narrativ der Machthaber (M. Gorkij, A. Frenkel, F. Ėjchmanns) auf der linken Seite des Plakats steht dem traumatischen Lagernarrativ der Zeitzeugen (V. Černavin, D. Lichačev und A. Solženicyn) und ihrer Opferperspektive zur rechten Seite direkt gegenüber. Aber auch untereinander stehen die Stimmen auf jeder Seite in einem Dialog.

Anhand der Karte können die Infrastruktur des Lagers mit den verschiedenen Abteilungen und letztendlich auch Maßstab und Organisation näher betrachtet werden. Die Diagramme im unteren Teil des Plakats visualisieren Daten zu der Anzahl, dem Geschlecht und der Nationalität der Inhaftierten aus dem Jahr 1927 (die Ermittlung von Daten geht auf M. Rozanov[1] zurück) und zeigen den rasanten Anstieg in der Zahl der Inhaftierten in den Jahren 1927-130, der die spätere Auflösung des Lagers und die Versetzung Tausender von Inhaftierten zum Bau des Weißmeerkanals (russ. Belomorkanal) vorbereitet hatte.

 

Literatur:

[1] Vgl. Sošina, Antonina: Na Solovkach protiv voli: sud’by i sroki, 1923-1939. 2. Aufl, Moskva: 2014