Stimmen

Zeitzeugen erzählen

Auf der Suche nach lebendiger Erinnerung

Welche Geschichte wird eigentlich erzählt? Dieser Frage nähert sich auch das letzte Plakat der Serie, das auf einer “Oral History”-Recherche während unserer Reise basiert. Es wurde auf der Basis von Interviews gestaltet, die während der Exkursion mit einigen spontan gesprächsbereiten älteren BewohnerInnen der Siedlung (insgesamt 800) geführt werden konnten. Das Plakat zeigt Auszüge aus den Gesprächen und selbst angefertigte Fotos.

Mit dieser Arbeit soll einer These widersprochen werden, die wir vor Ort in einem Vortrag gehört haben: Die Erzählungen der ZeitzeugInnen machen deutlich, dass es sehr wohl eine lebendige Erinnerung auf der Insel gibt. Wir zeigen, wie von den TrägerInnen der Erinnerung der Vergangenheit gedacht wird und an welche Zeit sie sich erinnern und auf welche Art und Weise wird das Erlebte aufgearbeitet wird. Wir gingen der Frage nach, ob die älteren BewohnerInnen bereit sind, ihre Erinnerungen mit anderen zu teilen, und fragten, was die Interviewten mit diesem Ort verbindet,  was sie erlebt haben und inwieweit das Erfahrene Einfluss auf die Gegenwart nimmt.

Auf dem Plakat sind Auszüge aus drei Interviews zusammenmontiert, die im Juli 2016 von Teilnehmerinnen unserer Projektgruppe auf den Solovki durchgeführt wurden und Bestandteil eines mit den Methoden der Oral History arbeitenden Teilprojekts sind. Die ProtagonistInnen dieser Gespräche sind allesamt RentnerInnen und sind der einheimischen Bevölkerung der Siedlung auf der Hauptinsel zuzurechnen; alle drei sind entweder an dem Ort geboren oder haben den größten Teil ihres langen Lebens dort verbracht.

Obwohl die Interviewten zu der Generation gehören, die in 40er Jahren geboren wurden und daher nicht unmittelbar vom Trauma des Lagers betroffen waren, schimmert in den Gesprächen mit ihnen hier und da eine nicht unkomplizierte Beziehung zur Geschichte des Ortes, ihrer eigenen Geschichte und der Geschichte ihres Landes durch, die auch der Prägung des Ortes durch das stalinistische Straflager zu tun hat.

Dabei wird auch deutlich, dass die Geschichte des GuLag im kollektiven Gedächtnis der Inselbewohner von zeitlich präsenteren, z.T. noch aus der eigenen Biographie gewonnenen Erfahrungen wie dem II. Weltkrieg überlagert wird. Insgesamt lässt sich anhand der Aussagen der Interviewten schließen, dass man sich von den Schrecken der Vergangenheit loszulösen versucht, um sich auf die Gegenwart und Zukunft zu fokussieren.

Es erwies sich als schwierig, die sich teilweise spontan ergebenden Gespräche thematisch zu lenken. Die Interviewten äußerten sich mehrheitlich in einer Art  “innerem Monolog”, aus dem Auszüge wiedergegeben werden.

Drei sehr konträre Gespräche und Stimmen sind auf dem vorliegenden Plakat in Übersetzung dokumentiert:

  1. Ein älterer Mann erzählt, dass sein Vater bei der Armee war, insgesamt 12 Jahre gedient (7 Jahre + Krieg) hat und nach dem Krieg Direktor der Offizierswohnheime wurde. Er selbst sei 1946 auf der Insel geboren. Seine Ausführungen handeln vom Streit um das Gedächtnis. Er spricht seine Meinung zur Aufarbeitung der Erinnerung an den GULag aus; er äußert sich, sich auf Solženicyn berufend, zu Lichačevs Aufenthalt als Häftling, wirft den heutigen Mönchen eine “falsche Lebensweise” vor und kritisiert die Klosterführungen. Außerdem stellt er mutige und zum Nachdenken anregende Thesen auf.
  2. Eine ältere Frau: Mit der Dame hat sich kein Dialog ergeben. Wir haben sie nach Ihren Erinnerungen gefragt und sie fing an, uns von ihren gegenwärtigen Beschwerden aufgrund der Lebensbedingungen zu erzählen.
  3. Eine andere ältere Frau: Sie gibt an, 1947 im Alter von 17 Jahren auf die Solovki gekommen zu sein, um als Lehrerin in der Schule zu arbeiten. Zu der Zeit gab es immer noch Militär auf der Insel und auch die Matrosenschule (“Škola Jung”) existierte bis in die 70er Jahre hinein. An den Ort und die Zeit denke sie trotz der Umstände positiv zurück.